Mein geschätzter PM-Camp-Kollege Mike Leber hat zum letzten Beitrag „Systemisches Projektmanagement: Eine Annäherung“ einen tollen Kommentar verfasst. Ich habe mir deshalb erlaubt, Mikes Kommentar in Form eines virtuellen Dialogs aufzugreifen. Mikes Kommentar ist im Folgenden kursiv dargestellt:
Meine Arbeitshypothese(n): Systemdenken und Komplexitätsdenken (oder jeweils -theorie) sind für die grossen Aufgaben unserer Zeit die einzige mögliche Denkrichtung, abseits vom überholten Reduktionismus, der Idee der optimierbaren Maschine. Und der Begriff “Projekt” wird immer nebensächlicher, entfernt sich von herkömmlichen Annahmen über Gestaltung und Abwicklung.
Sehe ich auch so. Allerdings bin ich der Ansicht, dass Projekte für viele Aufgabenstellungen nach wie vor die richtige Arbeits- und Organisationsform sein werden. Denn wir werden auch weiterhin Vorhaben haben (z.B. im Baubereich), auf die der aktuelle Projektbegriff zutrifft.
Die wohldurchdachten Fundamente dieser Ansätze sind seit weit mehr als 40 Jahren verfügbar. Aber erst heute erleben wir durch exponentielle Vernetzung und Beschleunigung den Paradigmenwechsel und den Bedarf dieser Theorien. Dringende Fragen der Gegenwart und Zukunft lassen sich mit alten Mustern nicht mehr beantworten. Und zu diesen Mustern zählt für mich auch das Projektmanagement.
Ja, viele relevante Erkenntnisse und Prinzipien sind nicht neu. Ich denke jedoch, dass „gutes und richtiges Projektmanagement“ noch lange einen Wert haben kann und wird. Mein Bild ist, dass das neue Denkparadigma im Bewusstsein einer integralen Logik auf dem jeweils alten aufbaut. So ist es natürlich wünschenswert, dass höhere Formen der Organisation und Zusammenarbeit (also auch höhere wie Projektmanagement) vermehrt Anwendung finden. Aber ich denke, dass wir auch in Zukunft komplizierte Probleme (≠ die dringenden Fragen der Gegenwart und Zukunft) haben werden, die mit den „klassischen PM Ansätzen“ gut zu lösen sind (wie Mike ja weiter unten auch schreibt).
Systemisches Denken und Handeln lässt sich auch niemals auf ein System reduzieren. Es gibt kein einzelnes Master-System. Es ist unrealistisch und auch wenig hilfreich ein komplexes Projektsystem konstruieren und dann steuern zu wollen. Stattdessen braucht es weit gefasste rahmengebende Führung mit einem Blick auf hoch dynamische Umwelten und dadurch ermöglichte emergente Ereignisse und Ergebnisse.
Dem stimme ich voll und ganz zu. Wenn es in meinem Beitrag oder in einem der Kommentare anders rüber gekommen ist, so habe ich mich missverständlich ausgedrückt.
In evolutionärer Hinsicht glaube ich, dass trotz des Paradigmenwechsels ein Beibehalten des Begriffs “Projekt” hilfreich sein kann. Das alte Projektmanagement eignet sich aber wohl nur mehr für die wiederholte Abwicklung komplizierter Aufgaben (Häuser bauen, Maschinen fertigen, Fabriken aufstellen, etc). In Anlehnung an herkömmliche Definitionen des Begriffs “Projekt” führt das zu einem Dilemma an sich. Das Stehenlassen des Projektbegriffs erweist sich aber im Sinne einer Anschlussfähigkeit hin zu bestehenden Organisationen, Berufsbezeichnungen und Rollenträgern als nützlich.
Sehe ich genauso. Wenn wir uns einig sind, dass mit (Projekt)Management maximal komplizierte Probleme gelöst werden können. Dann brauchen wir aber einen neuen Begriff für die jeweils höherwertigen Probleme und die dazu passenden Organisations- und Arbeitsformen.
In komplexen Umwelten tritt das Projekt jedoch bereits heute in den Hintergrund. Top Leistung und Innovation kann in einem derartigen Kontext nicht mehr geplant, nicht mehr aufgesetzt und damit nicht mehr controlled werden. Sie können nur mehr nach bestem Wissen und Gewissen permanent ermöglicht werden. Es bleibt nur mehr den richtigen Rahmen in zahlreichen Dimensionen zu setzen und zu fördern. Organisationen und Teams, die dort arbeiten, verlassen bereits heute nach einiger Zeit auf natürlichem Weg das Projekt-Korsett, orientieren sich an der Customer Journey, an einer ganzheitlichen Stakeholder-Arbeit, daran ihre Real Options zu steuern, ihren Arbeitsfluss zu optimieren und ihre Prozesse darin mit vielfältigen Teamzusammensetzungen laufend zu verbessern.
An dieser Stelle spielt die projektorientierte Organisation keine wesentliche Rolle mehr. Die adaptive lernende Organisation wird “notgedrungen” Realität. Das Rechnen in langwierigen und simplifizierten Business Cases ist irrelevant. Denn “kein noch so guter Schlachtplan überlegt den Erstkontakt mit dem Fein”.
Genau, Mike. Genau.
Meine Arbeitshypothese(n) bringen mich zu folgenden Schlußfolgerungen: Stufe 1: – Beibehalten bekannter Begriffe und Traditionen im Sinn der Anschlussfähigkeit an eine völlig neue Gegenwart – Zunehmende Ortung bekannter PM-Techniken bei hoch repititiven Tätigkeiten Stufe 2: – Evolutionärer Übergang zu einem systemischen Management im Kontext komplexer adaptiver Systeme Sehe ich genauso. Vor allem das Thema der Anschlussfähigkeit halte ich in dem Zusammenhang für zentral. Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als die bekannten Begriffe solange zu verwenden, bis sich daraus ein neues Begriffsverständnis entwickelt hat.
Der Begriff “systemisches Projektmanagement” ist in diesem Sinn eine mögliche Überleitung in die Gegenwart, den ich allerdings als Oxymoron deute. Ist man bei Stufe 2 angelangt, dann macht es für mich nur mehr Sinn von “Systemischer Führung in komplexen Systemen” zu sprechen. Und hier schlagen wir viele alte neue Kapitel auf …
Ich sehe natürlich auch einen gewissen Widerspruch in der Kombination „systemisches Projektmanagement“. Vor einiger Zeit habe ich ja auch schon mal darüber geschrieben, dass ich sogar im „agilen Projektmanagement“ ein Oxymoron sehe.
Zum Thema „Systemische Führung in komplexen Systemen“ habe ich von meinem wichtigsten systemischen Lehrer Kambiz Poostchi gelernt, dass es in sozialen Systemen drei Schlüsselfunktionen braucht (nämlich Autopoiese, Homöostase und Morphogenese), damit sie sich lebendig entwickeln können. Homöostase ist in diesem Zusammenhang mit stabilisierendem Management vergleichbar (siehe hierzu auch mein Artikel im Projektmagazin). Systemische Führung alleine wird nicht ausreichen. Mike, in jedem Fall danke ich Dir herzlich für Deine intensive Auseinandersetzung mit dem Blogbeitrag. Durch Dein kritisches Hinterfragen sind für mich einige Aspekte klarer geworden. Und zu anderen Punkte werden ich „mit mir selbst in Klausur gehen“ 😉
PS: That’s why I like blogging so much!
Das Aufteilen der Projektwelt in verschiedene Schubladen ist wenig systemisch. Die Behauptung
„Das alte Projektmanagement eignet sich aber wohl nur mehr für die wiederholte Abwicklung komplizierter Aufgaben (Häuser bauen,….“
fokussiert bloss auf den Projektmacher, z.B. den Bauunternehmer. Ein Projekt im systemischen Sinn besteht aber immer aus Projektmachern/Lieferanten/Bauunternehmer *und* Auftraggeber/Kunde/Bauherr. Für den Bauherr ist das Projekt aber nicht repetitiv. Oder wieviele Einfamilienhäuser zum Eigenbedarf bauen Sie in Ihrem Leben?
Die Integration eines Einfamilienhaus in das (Familien-)Leben eines Menschen (oder die Integration einer neuen Fabrikhalle in ein Unternehmen) ist nie repetitiv und stets komplex, aber immer auch ein Teil vom Projekt. Sie kann weder mit herkömmlichen noch mit agilen oder sonst welchen konzeptionellen Methoden durchgeführt werden, sondern ist immer offen, crosskatalytisch und weit weg vom Gleichgewicht.
Meine Kritik am herkömmlichen Projektmanagement ist, dass es bloss immer den einfacheren Teil des Projekts adressiert.
Hallo Peter,
dass auch komplizierte Projektinhalte am Ende komplexe soziale Systeme ausbilden, ist natürlich klar.
Mir fällt auf, dass wir uns in der „Systemdiskussion“ immer wieder in theoretische Gefilde verlaufen. Dabei stelle ich mir die Frage, ob daraus schlussendlich ein praktischer Erkenntnisgewinn resultiert, der auch wirklich umsetzbar ist?
Am Ende ist doch entscheidend, ob die in Projekten beteiligten Menschen die systemischen Prinzipien, Modelle und Erkenntnisse in gelingende Zusammenarbeit übertragen können? Und genau hier befürchte ich, dass eine reine kognitive Auseinandersetzung mit den Themen wenig zielführend ist. Wir brauchen, um systemisches Denken und Handeln wirklich zu erlernen, Umgebungen und Begleiter, die Lernen 2. und 3. Ordnung ermöglichen. Ein solches Lernfeld habe ich bislang nur in entsprechenden Ausbildungslehrgängen erlebt, in denen „wahre Meister“ (m/w) ihre Erkenntnisse geteilt haben.
Viele Grüße! Stefan
Hallo
Mich interessiert, was an „systemisch“ so spannend ist. Ich meine nicht, welche Argumente für oder gegen so eine Sichtweise sprechen, sondern was fasziniert, macht kribbelig usw. Ich glaube, dass Begriffe eben auch eine emotionale Attraktivität haben (oder auch nicht). Dies gilt z.B. auch für den Begriff „agil“.
Ich bin z.B. bei systemisch beeindruckt von der großen Stringenz, die sich über sehr viele Bereiche zieht. Aber auch diese Art quer zum Normalen zu denken und gleichzeitig das Normale gerade dadurch besser abbilden zu wollen, finde ich spannend. Ähnlich wie früher die Marxisten, so bin ich heute immer wieder erstaunt wie die Systemiker mit Begriffen jonglieren und alles erfassen wollen. Das fasziniert mich und gleichzeitig stößt mich die Härte ab. Ich empfinde das oft wie eine perfekte Landkarte, die sehr viel zeigt und gleichzeitig starr ist.
Ich glaube, dass die Frage, ob sich so etwas wie „systemisches“ Projektmanagement durchsetzt, eben zum großen Teil von so Fragen abhängt. Ich bin z.B. vom Begriff Leben fasziniert. Der ist noch viel mehr abgegrabbelt und doch verweist er auf etwas, was mich sehr reizt.
Also meine Frage: was reizt an „systemisch“ bzw. stößt ab?
Viele Grüße
Ingo