Neulich wurde auf dem Projektmagazin der erste Teil meines Beitrags „Systemisches Projektmanagement – Wie können komplexe Projekte gelingen?“ veröffentlicht. Mir ist bewusst, dass ich damit dünnes Eis betrete, denn diese Denkrichtung und Haltung ist im Projektmanagement weder verbreitet noch klar definiert. Deshalb versuche ich heute eine erste Annäherung.
Alles systemisch, oder was?
Wenn Sie dem Begriff „systemisch“ kritisch gegenüber stehen:
- Ja, „systemisch“ wird häufig inflationär oder trivialisierend verwendet.
- Ja, „systemisch“ ist nicht eindeutig definiert – schon gar nicht im Kontext von Projekten.
- Ja, es ist nicht gar einfach, „systemisch“ klar zu definieren und abzugrenzen.
Denn:
- Es gibt viele unterschiedliche Theorien und Ansätze zu (sozialen) Systemen.
- Die Erkenntnisse zu (sozialen) Systemen haben sich über die Jahrzehnte weiter entwickelt.
- Was systemisches Denken und Handeln sein könnte, übersteigt die reine Ratio. Man muss es erleben und mit anderen Menschen reflektieren. Und: Der Erkenntnis- und Lernprozess geht ein Leben lang.
Der Versuch einer Definition
Systemisches Denken und Handeln ist eine Geistes-Haltung, die sich um einen angemessenen Umgang mit sozialer Komplexität bemüht. Wichtige Aspekte dieser Haltung sind Ressourcen- und Lösungsorientierung, Wirklichkeitskonstruktion und Co-Kreation sowie die Erkenntnis, dass sich soziale Systeme nicht deterministisch steuern lassen (vgl. Barbara Heitger).
Systemisches Projektmanagement könnte folglich bedeuten (vgl. Constantin Sander):
- Systemisches Projektmanagement ist eine Frage der Geistes-Haltung und des Weltbildes.
- Ein System (folglich auch ein Projekt) kann man erst verstehen, wenn man versucht, es zu verändern, zu steuern oder zu beeinflussen. Ein System ist immer mehr als die Summe der einzelnen Teile.
- Wenn wir uns mit Problemen in sozialen Systemen auseinander setzen, handelt es sich häufig nur um die Symptome derselben. Um die wahren Ursachen für Probleme zu identifizieren, müssen wir uns auch mit der Tiefenstruktur sozialer Systeme auseinander setzen. Dabei geht es u.a. um Kulturmuster, Werte, Identitätsmerkmale oder den tieferen Sinn und Zweck.
- Die reine Problemfokussierung ist häufig ein Problem. Wir sollten uns vielmehr auf Potenziale, Ressourcen und Lösungen konzentrieren. Welche Potenziale des Teams liegen brach? Welche Ressourcen des Umfelds können wir nutzen? Wie fördern wir eine konstruktive, lösungsorientierte Haltung im Team?
- Wahrheit und Objektivität sind eine Illusion. Besonders Projekte bestehen aus einer Vielzahl von Widersprüchen, Polaritäten und Spannungen. Dabei geht es darum, Vielfalt zuzulassen und in Szenarien zu denken (Divergenz, Emergenz), zum richtigen Zeitpunkt aber auch gemeinsam zu fokussieren und mutig zu handeln (Konvergenz).
- Souveräne Projektleitung ist vergleichbar mit der Rolle eines Kapitans (vgl. Olaf Hinz). Es geht darum, die Kräfte im Umfeld aber auch die Ressourcen im System geschickt zu nutzen, um sicher in den Zielhafen zu kommen.
- Systemisches Projektmanagement geht über das traditionelle Management (im Sinne von planen, steuern, überwachen etc.) hinaus. Die Beteiligten sind sich bewusst, dass deduktive Planung und Steuerung unmöglich ist. Umso wichtiger ist eine professionelle und vor allem rollierende / iterative Planung und Steuerung – aber aus einen neuen Verständnis heraus und auch mit teilweise anderen Methoden und Tools (vgl. Tabelle im Projektmagazin-Artikel).
Ausblick
Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob ich die Beschreibung „systemisches Projektmanagement“ langfristig verwenden werde. Denn auch ich sehe die Gefahr, dass der Teil des „Systemischen“ im Alltagsgebrauch allzuleicht trivialisiert und dadurch „verheizt“ wird.
Insgesamt sehe ich das Ganze als einen Denk- und Handlungsstrang auf dem Weg in ein neues Organisations-, Führungs- und Managementverständnis. Und das ist in vielen Bereichen notwendig – besonders auch dort, wo Menschen gemeinsam an komplizierten und komplexen Vorhaben (= Projekte) arbeiten.
Hallo Stefan,
mir gefällt nicht die Verknüpfung mit dem Weltbild (bzw. der Geisteshaltung), weil diese Wortwahl eine moralisierende Komponente hat. Ich würde eher von Denkrichtung im Sinne einer bestimmten Perspektive auf Projekte sprechen (was gleichzeitig impliziert, dass es noch andere Perspektiven gibt).
Ein zweiter spannender Einwurf: Du hast in deiner Definition noch nicht berücksichtigt, welches System du betrachtest. Ist es das Projektergebnis, das soziale Umfeld des Projektes, die Projektorganisation,… Kann nicht jedes davon als System definiert und betrachtet werden?
Gruß
Bernhard
Hallo Bernhard,
danke für Deinen Input!
Weltbild oder Geistes-Haltung sind meines Erachtens nicht moralisierend (auch nicht so gemeint). Es ist eine Tatsache, dass sich die Welt unaufhörlich weiter entwickelt – so natürlich auch unser Verständnis über die Welt. Das hat meines Erachtens nichts mit Moral zu tun, sondern vielmehr Evolution und einem kontinuierlichen Erkenntnisprozess.
Systemdefinition: Ich betrachte Projekte in ihrer Gesamtheit. Dabei sind IMMER das Umfeld, das System selbst und die Ergebnisse und Wirkungen eines Systems zu betrachten.
Grüße, Stefan
Spricht mir in weiten Zügen aus der Seele.
Meine Arbeitshypothese(n): Systemdenken und Komplexitätsdenken (oder jeweils -theorie) sind für die grossen Aufgaben unserer Zeit die einzige mögliche Denkrichtung, abseits vom überholten Reduktionismus, der Idee der optimierbaren Maschine. Und der Begriff „Projekt“ wird immer nebensächlicher, entfernt sich von herkömmlichen Annahmen über Gestaltung und Abwicklung.
Die wohldurchdachten Fundamente dieser Ansätze sind seit weit mehr als 40 Jahren verfügbar. Aber erst heute erleben wir durch exponentielle Vernetzung und Beschleunigung den Paradigmenwechsel und den Bedarf dieser Theorien. Dringende Fragen der Gegenwart und Zukunft lassen sich mit alten Mustern nicht mehr beantworten. Und zu diesen Mustern zählt für mich auch das Projektmanagement.
Systemisches Denken und Handeln lässt sich auch niemals auf ein System reduzieren. Es gibt kein einzelnes Master-System. Es ist unrealistisch und auch wenig hilfreich ein komplexes Projektsystem konstruieren und dann steuern zu wollen. Stattdessen braucht es weit gefasste rahmengebende Führung mit einem Blick auf hoch dynamische Umwelten und dadurch ermöglichte emergente Ereignisse und Ergebnisse.
In evolutionärer Hinsicht glaube ich, dass trotz des Paradigmenwechsels ein Beibehalten des Begriffs „Projekt“ hilfreich sein kann. Das alte Projektmanagement eignet sich aber wohl nur mehr für die wiederholte Abwicklung komplizierter Aufgaben (Häuser bauen, Maschinen fertigen, Fabriken aufstellen, etc). In Anlehnung an herkömmliche Definitionen des Begriffs „Projekt“ führt das zu einem Dilemma an sich. Das Stehenlassen des Projektbegriffs erweist sich aber im Sinne einer Anschlussfähigkeit hin zu bestehenden Organisationen, Berufsbezeichnungen und Rollenträgern als nützlich.
In komplexen Umwelten tritt das Projekt jedoch bereits heute in den Hintergrund. Top Leistung und Innovation kann in einem derartigen Kontext nicht mehr geplant, nicht mehr aufgesetzt und damit nicht mehr controlled werden. Sie können nur mehr nach bestem Wissen und Gewissen permanent ermöglicht werden. Es bleibt nur mehr den richtigen Rahmen in zahlreichen Dimensionen zu setzen und zu fördern. Organisationen und Teams, die dort arbeiten, verlassen bereits heute nach einiger Zeit auf natürlichem Weg das Projekt-Korsett, orientieren sich an der Customer Journey, an einer ganzheitlichen Stakeholder-Arbeit, daran ihre Real Options zu steuern, ihren Arbeitsfluss zu optimieren und ihre Prozesse darin mit vielfältigen Teamzusammensetzungen laufend zu verbessern.
An dieser Stelle spielt die projektorientierte Organisation keine wesentliche Rolle mehr. Die adaptive lernende Organisation wird „notgedrungen“ Realität. Das Rechnen in langwierigen und simplifizierten Business Cases ist irrelevant. Denn „kein noch so guter Schlachtplan überlegt den Erstkontakt mit dem Fein“.
Meine Arbeitshypothese(n) bringen mich zu folgenden Schlußfolgerungen:
Stufe 1:
– Beibehalten bekannter Begriffe und Traditionen im Sinn der Anschlussfähigkeit an eine völlig neue Gegenwart
– Zunehmende Ortung bekannter PM-Techniken bei hoch repititiven Tätigkeiten
Stufe 2:
– Evolutionärer Übergang zu einem systemischen Management im Kontext komplexer adaptiver Systeme
Der Begriff „systemisches Projektmanagement“ ist in diesem Sinn eine mögliche Überleitung in die Gegenwart, den ich allerdings als Oxymoron deute. Ist man bei Stufe 2 angelangt, dann macht es für mich nur mehr Sinn von „Systemischer Führung in komplexen Systemen“ zu sprechen. Und hier schlagen wir viele alte neue Kapitel auf …
lg, Mike
+1 für Mikes Antwort
Mir gefällt insbesondere: „Und der Begriff “Projekt” wird immer nebensächlicher, entfernt sich von herkömmlichen Annahmen über Gestaltung und Abwicklung.“ Und die “Systemischer Führung in komplexen Systemen”.
Nicht die Projekte werden schwieriger (ich möchte den überstrapazierten Begriff Komplexität vermeiden), sondern ihre Umwelt.
Guss, Jens
Jens, danke für den Input.
Ich denke, dass beide Gedankengänge stimmen. Projekte müssen aufgrund der gestiegenen Umfeldkomplexität diese Komplexität aber auch systemintern aufbauen können (law of requisite variety).
Natürlich stimmt es, dass Komplexität einen gewissen Buzz-Word-Charakter erhalten hat. Grund hierfür ist aber meines Erachtens auch die häufig falsche und unscharfe Verwendung. Tatsache ist, dass die gestiegene Komplexität eine der zentralen Herausforderungen unserer Zeit darstellt.
Sorry, daß ich so spät antworte. Aber: Ich denke nicht, daß das PM die Umweltkomplexität spiegeln muß-das wäre eine Überforderung-,sondern sie erkennen und dann möglichst reduzieren sollte.
Das ist in erster Linie eine Machtfrage -und beim BER hat mans nicht getan.
Gruss, Jens
Hallo Jens,
jetzt machst du eine Grundsatz-Diskussion auf: Kann man Komplexität überhaupt reduzieren?
PM muss sicherlich den Umgang mit der Komplexität thematisieren und eine Strategie zum Umgang mit Komplexität finden.
Gruß
Bernhard
Hallo Bernd,
dacore – PM muss sich mit Komplexität beschäftigen und Strategien für den Umgang mit ihr finden. Das ist, wie Du sagst, eine Grundsatzdiskussion und auch nicht neu. Es gibt brauchbare, geerdete Frameworks und Modelle, um Komplexität zu meistern. „Tools“ (nach denen ja oft zuerst gerufen wird) sind also verfügbar. Mich treibt, unter anderem, die Frage um, warum wir nicht längst besser mit Komplexität umgehen können. Im privaten Bereich ist es sogar manchmal eine Leidenschaft – bei Segeln beispielsweise. Was dort den Spaßfaktor ausmacht, ist uns in Projekten (oder im Management allgemein) lästig. Meine These ist, dass es hier vor allem um Macht geht. Passe ich meine Entscheidungs- und Führungsinstrumente wirklich der Komplexität an, so gebe ich Kontrolle ab und verliere eventuell Macht. Command & Control ist nicht mehr der geeignete Stil für die dynamischen komplexen Projekte, mit denen wir uns beschäftigen. Es ist aber der immer noch hauptsächlich gelehrte Stil und die „Denke“ dahinter manifestiert.
Gleichzeitig zeichnet sich ab, dass das Thema aktueller wird und allerorts diskutiert wird. Das macht Hoffnung… (-:
Viele Grüße, Stephanie
P.S.: Komplexität läßt sich nicht reduzieren oder beherrschen, nur meistern!
Danke für diesen Artikel! Ich teile die Skepsis gegenüber der inflationären Verwendung des Begriffs „systematisch“, halte nichtsdestotrotz systemische Tools als sehr sinnvolle Ergänzung von PM-Tools. Ich finde es gut, wenn jemand wie M. Varga von Kibed in PM-Ausbildungen als Vortragender dabei ist. Ich selbst habe für Coachings und im Projektmanagement 2 Instrumente entwickelt: die systemische Umfeldanalyse sysUMFA und das systemisches Organigramm sysORG. Die Erfahrung zeigt, dass auch erfahrene ProjektleiterInnen, die Tools wie Aufstellungen oder Tetralemma nicht sehr aufgeschlossen gegenüber stehen, mit diesen Tools „am Papier“ bzw. am iPad AHA-Erlebnisse haben! Man vermeidet Schubladen- und Klischeedenken und ergänzt klassische Portfolioanalysen durch den systematischen Ansatz. Es wäre schön, wenn mehr Artikel über die praktische Anwendbarkeit von systemischem Denken im PM erscheinen würden, um den Begriff zu konkretisieren. lg Christian