5 Thesen zu Führung und Management in der „Vernetzten Gesellschaft“.

Wenn man namhaften Soziologen wie Prof. Dirk Baecker Glauben schenken darf, befinden wir uns mitten im Übergang in die vierte Epoche der menschlichen Entwicklung – die „Vernetzte Gesellschaft“. Diese Erkenntnisse halte ich für essenziell für das heutige Verständnis von Gesellschaft, Organisation, Führung und Management.

Nach Baecker sind die vier Entwicklungsepochen:

  1. Sprache – Tribane Gesellschaft (ca. 100.000 v. Chr.)
  2. Schrift – Antike Gesellschaft (ca. 4.000 v. Chr.)
  3. Buchdruck – Moderne Gesellschaft (ca. 1450 n. Chr.)
  4. Digitale Vernetzung – Vernetzte Gesellschaft (ca. 1980 n. Chr.)

In diesem kurzen Video beschreibt Baecker den anstehenden Übergang in die vierte menschliche Entwicklungsepoche:

Baeckers Analyse habe ich als Ausgangspunkt für ein kleines Gedankenexperiment verwendet – nämlich „5 Thesen zu Führung und Management in der Vernetzten Gesellschaft“.

Vorab: Führung und Management sind Schlüsselfunktionen in sozialen Systemen. Je besser und bewusster sie wahrgenommen werden, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Unternehmen, Organisationen, Projekte etc. ihrem Umfeld einen Nutzen stiften und somit überlebensfähig sind und bleiben.

1. „Das Neue“ erkennen. Radikal umdenken.

Durch die „Digitale Transformation“ haben sich grundlegende Spielregeln geändert. Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Widersprüchlichkeit sind keine bloßen Schlagworte mehr (VUCA) – sie bestimmen unsere tagtägliche Wirklichkeit.

Wir müssen mit einer neuen Offenheit und Radikalität an die Fragen der Gegenwart und der Zukunft heran treten. Meine Befürchtung ist, dass wir uns gerade in Zentraleuropa noch viel zu sehr auf den Errungenschaften und dem dadurch entstandenen Wohlstand der Vergangenheit ausruhen (Stichwort: Verwöhnungstendenzen). Das werden wir uns in der „next society“ nicht mehr leisten können.

Beispiel gefällig: Die Art uns Weise, wie wir das Bildungssystem an die neuen Umfeldbedingungen anpassen, ist viel zu zaghaft und häufig dilettantisch. Wir brauchen neue Lehrpläne, neue Unterrichtsmethoden und vor allem eine neue Haltung bei Eltern und Pädagog/innen, welche die Potenziale der Menschen in den Mittelpunkt stellt und bestehendes Wissen regelmäßig kritisch hinterfragt.

2. „Das Alte“ schätzen und schützen.

Gleichzeitig gilt es, (uralte) Prinzipien wieder zu entdecken, welche für das Gelingen in sozialen Systemen verantwortlich sind. Diese Prinzipien finden wir u.a. in der Philosophie, der Systemtheorie, der Geschichte, der Biologie oder auch in der Theologie.

Fragen, mit denen sich die Menschheit schon sehr lange beschäftigt, sind z.B.:

  • Wie können Organisationen „funktionieren“?
  • Wie kann Zusammenarbeit in Organisationen gelingen?
  • Was braucht es für ein gutes Zusammenleben?
  • Wie entsteht Sinn?
  • Wie entsteht Vertrauen?

Für diese Fragen brauchen wir häufig keine „neuen Antworten“. Aber wir müssen die alten Erkenntnisse frei legen, teilweise für die heutige Zeit richtig interpretieren und im Bewusstsein halten.

Beispielhaft möchte ich die drei Leitprinzipien aus der systemischen Organisations- und Führungslehre nennen: Zugehörigkeit – Achtsamkeit – Ordnung. Hinter diesen Leitprinzipien stehen eine Reihe von Subprinzipien, welche für das Verständnis von Organisationen essenziell sind.

3. Widersprüche akzeptieren. Mutig entscheiden.

In der Vernetzten Gesellschaft gibt es nur noch selten klare Entscheidungssituationen. Denn Sachverhalte und Umfeldbedingungen werden immer undurchsichtiger, sie können sich rasch verändern, und die Auswirkungen des eigenen Handelns sind kaum abzuschätzen.

Organisationen und hier vor allem Führungskräfte müssen lernen, mit der gestiegenen Komplexität und der damit verbundenen Unsicherheit umzugehen. „Chef, sag‘ was wir machen sollen…?„, wird immer seltener zu guten Entscheidungen oder Ergebnissen führen. Wir müssen Organisationen darauf vorbereiten und trainieren, unterschiedliche Perspektiven auf ein Problem einzunehmen und somit Komplexität in der Organisation aufzubauen. Hierzu brauchen wir Vielfalt und Diversity und professionell moderierte Prozesse.

Doch eines ist klar: Der tägliche Umgang mit Ambiguität kann anstrengend sein. Denn die vermeintlich richtigen Antworten zu geben ist (kurzfristig) wesentlich einfacher, als die richtigen Fragen für ein Problem zu stellen. Letzteres ist in einer komplexen, vernetzten Welt aber unverzichtbar.

4. Lernen. Offline und Online.

Wissen ist im digitalisierten Zeitalter keine Engpassressource mehr. Wir müssen „nur“ in der Lage sein, das für die Lösung eines spezifischen Problems relevante Wissen zu identifizieren, zu verstehen und richtig anzuwenden.

Das bedeutet aber auch, dass Wissen allein häufig keinen Wettbewerbsvorteil mehr darstellt. Sehr wohl aber die Art uns Weise, wie wir das zur Verfügung stehende Wissen anwenden. Folglich brauchen wir neue, innovative und lustvolle Lernformen, um kreative Lösungen für komplexe Herausforderungen zu erarbeiten.

Dabei gilt es nach Möglichkeit, bewährte analoge Lernformen mit digitalen Möglichkeiten zu ergänzen oder zu kombinieren. Denn das Internet stellt eine Lernressource dar, wie sie seit Menschengedenken einmalig ist. Wenn Unternehmen das nicht erkennen und für sich nutzen, werden sie in der Vernetzten Welt auf Dauer nicht überleben können. Punkt.

5. Fokus auf das Hier und Jetzt.

Eine der Schattenseiten der Digitalisierung ist offensichtlich: Die Flut an Informationen, welche tagtäglich via e-Mail, Handy, Nachrichten etc. auf uns einprasselt, hat unsere Organisationen hektisch, gestresst und teilweise ineffizient gemacht.

Gleichzeitig sind viele Vorhaben, Projekte oder Strategien in sich dynamisch verändernden Umfeldbedingungen nicht mehr längerfristig planbar. Wir müssen lernen, die (Zusammen)Arbeit wieder gezielt zu beruhigen, um den Fokus für das Wesentliche und damit die wertschöpfenden Tätigkeiten zu finden.

Fazit

Als ich den Videomitschnitt von Prof. Dirk Baecker zum Thema „Vernetzte Gesellschaft“ zum ersten Mal gesehen habe, war für mich sofort klar: Er hat das artikuliert, was ich unbewusst schon länger vermutet hatte. Wir befinden uns mitten im Übergang in ein völlig neues menschliches Zeitalter.

Zugegebenermaßen sind viele Entwicklungen, die mit diesem Wandel einher gehen, beängstigend und anstrengend. Ich persönlich glaube aber fest daran, dass wir den Transformationsprozess hin zu einer friedlicheren, menschlicheren und in Summe besseren Gesellschaft schaffen werden.

Allerdings müssen wir auch endlich aufhören, zu sehr in der Vergangenheit zu leben. Wir sollten Organisationen „von der Zukunft her führen„, wie es Otto Scharmer so trefflich formuliert (PDF). Hierzu brauchen wir kompetente, reflektierte und weltoffene Führungskräfte, die die „Organisationen der Zukunft“ bauen und gestalten.

6 Gedanken zu „5 Thesen zu Führung und Management in der „Vernetzten Gesellschaft“.“

  1. Hallo Heiko,

    ich bin jetzt mal fies, ok?

    „(…) und somit Komplexität in der Organisation aufzubauen (…)“

    Aber wie kann man denn Komplexität in einer Organisation aufbauen. Die ist doch sowieso schon da.

    Das ist… mit Verlaub, verkehrt. Komplexität ist sowieso da, was getan werden kann und sollte (nicht muss) ist endlich zu lernen auf Komplexität mit wirksamen „Möglichkeiten“ zu reagieren.

    Also wenn Herr Meyer morgen entscheidet das er Feature 12.1 im nächsten Release doch nicht mehr haben möchte, sondern Feature 17 was noch nicht fertig ist, dann wäre es doch toll, wenn das Team frühzeitigt davon erfährt und gemeinsam mit dem Kunden eine Lösunge gefunden werden kann. So mal ein simples Beispiel.

    Trotz der komplexen Komplexität mit der komplizierten Technik gibt es ja Mittel und Wege.

    Aber müssen, tut bitte keiner.

    Liebe Grüße
    Patrick
    http://www.agile-is-limit.de

    1. Wer ist Heiko? 😉

      Klar ist Komplexität schon da. Aber sie wird in hierarchischen Organisationsstrukturen gezielt eingedämmt.

      Vielleicht können wir uns auf die Formulierung „Komplexität zulassen“ einigen?

      LG, Stefan

  2. In unseren tayloristischen Linienorganisationen sind wir konditioniert, Komplexität „beherrschen“ oder „reduzieren“ zu wollen, weil sie die Effizienz stören – was aber nicht funktioniert. Hilfreich wäre das Gegenteil, die Komplexität zu erhöhen oder genauer gesagt: auf das angemessene Maß zu bringen. Nach Ashby sollte die Varietät des führenden Systems höher sein als das des geführten.

    Komplexität erschaffen wir bspw. durch soziale Interaktion, durch zwischenmenschliche Kommunikation. Und genau die wird in Linienorganisationen unterdrückt: da sind Berichtswege einzuhalten und man soll oder darf nicht so ohne weiteres mit irgendjemanden (über horizontale und vertikale Hierarchiegrenzen hinweg) einfach kommunizieren. Etc.

    Insofern bin ich bei dir Stefan (aka Heiko?): „eindämmen“, „zulassen“.
    LG,
    Bernd

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